Günther Bonheim - Lob des Versagens, Versuch über das Sterben.

An das Wort „Winterreise“ knüpft sich in allererster Linie der Gedanke an die Komposition von Franz Schubert, an den „Zyklus schauerlicher Lieder“, wie er selber einmal anläßlich einer privaten Aufführung zu seinem Werk gesagt haben soll. Dabei zählen die den Liedern zugrunde liegenden, vom Dessauer Literaten und herzoglichen Bibliothekar Wilhelm Müller, dem „Griechen-Müller“, verfaßten Gedichte auch ohne die Adelung, die sie durch die Schubertsche Vertonung erfuhren, zu den herausragenden Schöpfungen der deutschen Spätromantik.

Je aufmerksamer man sich in die Details ihrer oft so schlicht und anspruchslos anmutenden sprachlichen Gestaltung vertieft und je angelegentlicher man den vielfachen internen Bezügen und Verweisen nachspürt – und ebendies wird in der vorliegenden Studie versucht –, umso deutlicher tritt die letztlich unauslotbare Komplexität der Gedichtfolge zutage.

Und deutlich wird bei diesem Vertiefen und Nachspüren noch etwas weiteres: In ihrer unendlichen Trostlosigkeit, in der von Anfang bis (zum rätselhaften) Ende unbeirrt durchgehaltenen Überzeugung ihres Protagonisten, aufgrund einer unglücklichen Liebe der menschlichen Gemeinschaft auf immer abgestorben zu sein und statt dessen nur noch dem Gedenken an den Anlaß dieses Absterbens und der Konservierung des eigenen Elends leben zu können, geht Die Winterreise von Wilhelm Müller über das aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert ansonsten Bekannte weit hinaus.

Die Aktualität des Schubertschen Liederzyklus, die bei jeder guten Aufführung aufs Neue als solche unmittelbar empfunden wird, beruht zu einem guten Teil auf der beklemmenden Faszination ihrer Texte.

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