Meinrad Braun - Winterreise
Am Morgen des sechsten Dezember 1953 kommt der Pathologe August Brenner zu spät in den Hörsaal. Er weiß nicht, dass er in wenigen Minuten seinem vor vielen Jahren vermissten Freund Heinrich begegnen wird, der dort auf dem Sektionstisch liegt.
Brenner kommt nicht nur zu spät in den Hörsaal, er kommt auch in seinem Leben zu spät. Die Begegnung mit Heinrichs wirft ihn aus seinem Alltag, er muss erkennen, dass er fünfzig Jahre lang sich selbst ausgewichen ist. Mit dem Koffer des Toten, einem falschen Pass und einem Röhrchen Veronal macht sich Benner auf den Weg, tritt eine Reise an, die eine Reise in den Tod werden könnte.
Brenner, nur mehr Reisender, hat alles zurück gelassen, macht sich auf die Suche nach seinem vergangenen Leben, dort wo er glaubt, es verloren zu haben. Mit der Hellsichtigkeit eines Träumenden sieht er auf seiner winterlichen Reise das gleichsam sezierte, aufgerissene Nachkriegsdeutschland, erkennt dünne, verletzte Haut, Narben und dickes Fell. Begegnet seltsamen Zeitgenossen: einem schlitzohrigen Asylwärter, einem missionierenden Pfarrer, einem verträumten Erfinder, einem bösartigen Zwerg und einer verrückten Artistin. Einer charmanten Diebin und einem zwanghaften Schrottsammler, schließlich dem Doktor Kreß, einem untergetauchten Naziarzt, der vor ihm seine Vision eines neuen Menschen im Zigarrenrauch entstehen lässt.
Brenners Reise endet traumhaft, wie sie begonnen hat. Fest steht: Er ist wieder zurückgekommen, aber nicht heimgekehrt.
© Axel Dielmann-Verlag