FREMD BIN ICH EINGEZOGEN
Schuberts Winterreise aus interkultureller Perspektive kompositorisch neu interpretiert
„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ - mit dieser Textzeile beginnt Franz Schuberts berühmter Liederzyklus Winterreise, 1827 nach Gedichten von Wilhelm Müller vertont.
Der Wanderer, der uns hier auf berührende Weise begegnet, ist ein Mensch ohne Heimat. Wir erfahren von Liebe, Schmerz, Einsamkeit, Orientierungslosigkeit und Entfremdung. Eine Musik zwischen Erstarrung und Schmerz, zwischen kalter Realität und wärmender Erinnerung, zwischen Statik und Impulsivität.
Ähnliche Seelenzustände sind auch Grundlage der persischen Gedichte von Saadi, Rahi Moayeri und Mehdi Akhavan-Sales, die in der vorliegenden Fassung in Schuberts Liederzyklus eingebettet werden. Während wir in der „Winterreise“ extreme Gefühlskontraste erleben, entwickeln sich auf Grundlage der persischen Gedichte melancholische Klagemeditationen.
Sie ergänzen die Winterreise nicht nur, sondern fassen - neben dem Schmerz um die vergangene Liebe - die Aspekte der Einsamkeit, Flucht und Sehnsucht nach Heimat ebenso eindrücklich zusammen:
Der Gefangene des Fernwehs bin ich hier
und keine Stimme spendet Trost mir.
Lass uns nehmen
und uns auf den Weg ohne Rückkehr machen um zu erfahren
ob überall der Himmel die gleiche Farbe mag tragen.
Hier wird ein neuer Gedanke formuliert - ein Funken Hoffnung, in der Fremde doch ein Stück Himmel zu finden, der die gleiche Farbe tragen mag, um dem Gefühl der Heimatlosigkeit etwas entgegensetzen zu können.
Instrumentale Verbindungen werden über die persische Santur, Oud, Tar und Nachahmungen einer persischen Kamancheh durch hauchige Streicherklänge und dunkel-warme Flöten geschaffen.
Nach einer Einleitung mit dem Schubertschen Motiv des ständigen Begleiters, der „Krähe“ (Bassflöte, Marimba), setzt das erste persische Gedicht an („Ach um mein Leben“). Santur und Oud begleiten. Es folgt ein unheimliches, ersticktes „Pochen“ in der metrischen Formel des Wanderers im präparierten Klavier. Nach einer kurzen Überleitung erklingt Schuberts Original („Fremd bin ich eingezogen“) mit vereinzelten dissonanten Einwürfen.
Der Protagonist der Winterreise ist ein Suchender, der Ausschau nach Gleichgesinnten hält. Überall fühlt er sich fremd und nicht zugehörig. Die einzigen treuen Begleiter sind Krähe und Leiermann: Obwohl beide auch als Symbole für den Tod interpretiert werden, scheinen sie doch dem Reisenden zuzuhören und sein Schicksal zu teilen.
Erst im Leiermann entsteht eine Begegnung, auf die wir in den Liedern zuvor warten mussten. Wir hören eine repetitive Leiermusik in ihrer Einförmigkeit: eine reduzierte Melodie und minimalistische Begleitung. Die melodische Entwicklung am Ende ist aber aufwärts gerichtet in eine neue Perspektive: ein hoffnungspendender Dialog, wo vorher nur Einsamkeit war. In der Neuinterpretation bekommt dieser musikalisch dargestellte Dialog zwischen Wanderer und Leiermann durch die einzige wirkliche Interaktion zwischen Kunstlied und persischem Gesang eine besondere Akzentuierung.
Die Schubertschen Sätze und Motive werden durch eine originelle, differenzierte Instrumentierung variiert – nur in der Begleitung der originalen Gesangsstimme bleiben sie weitgehend unverändert.
Manche Passagen, wie der Beginn der Akkorde im „Wirtshaus“, erklingen in originaler Farbigkeit, während „Erstarrung“ an Klezmerklänge erinnert - ein beinahe komisch-trotziger Effekt, der das rastlose Gemüt des Wanderers widerspiegelt, während die Natur um ihm zu Eis erstarrt.
Von allen musikalischen Werken Franz Schuberts ist der Zyklus Winterreise vordergründig das Pessimistischste – und ist gleichzeitig reinster Ausdruck romantischen Denkens. Sie ist das innere Drama einer verzweifelten menschlichen Seele. Ehe sich der Wanderer in seinen „bunten Träumen“ verlieren kann, bricht die unerbittliche, kalte Wirklichkeit über ihn herein und erstickt jeden neuen Lebensmut im Keim. Eine immer stärker werdende Todessehnsucht nimmt ihn gefangen, nicht grundlos wird der Leiermann oft als Personifikation des Todes interpretiert - der im Sinne der Romantik auch als eine Erlösung sein kann.
Schuberts „schauerliche Lieder“, mit denen er schon seine ersten Zuhörer befremdete, durchzieht ein Hauch von Depression, der die Winterreise zum zeitlosen Werk macht, in dem sich auch heute viele Menschen erkennen können.
Doch bleibt am Ende der Hoffnungsschimmer: Die Erkenntnis, dass die beleuchteten Gefühle universelle Themen darstellen und man mit ihnen nicht allein steht, eröffnet eine Möglichkeit zur Überwindung der Isolation in einer Verbundenheit, die Trost spenden und das Fremdsein erträglich machen kann.
Das Asambura-Ensemble greift mit der Neuinterpretation FREMD BIN ICH EINGEZOGEN der Winterreise in Zeiten von Krieg, Unruhen und Fluchtbewegungen vor allem im Nahen Osten eine Thematik von erdrückender Aktualität auf und bringt in den persischen Gedichten die Verzweiflung einer ganzen Weltregion zum Ausdruck.
Gleichzeitig wird deutlich, dass Schmerz und Perspektivlosigkeit, aber insbesondere auch der Wunsch nach Zugehörigkeit und Heimat in allen Kulturen und zu allen Zeiten ähnlich erlebt werden. So wird der Zuhörer zur Solidarität mit den Menschen aufgerufen, die auf ihrer persönlichen Winterreise nach einem Himmel in gleicher Farbe suchen.
© Maximilian Guth (Komponist); Robert Colonius & Kari Günther