Gedanken zur Winterreise

Ich habe mich gefragt, ob es überhaupt sinnvoll sein kann, sich als Sänger diesem Zyklus schreibend zu nähern. Das Beste ist es doch immer noch, sich singend auf die Reise zu begeben.
Dennoch: im Unterricht lernt man, emotionales, instinktives und individuelles sängerisches Tun zu reflektieren und durch das Verbalisieren ins Bewußsein zu zerren... Ein für mich immer noch hochspannendes Feld. Also doch etwas schreiben über den Zyklus?

Für mich war ganz klar, dass ich nur über meine persönliche Erfahrung mit diesen Texten und dieser Musik würde berichten können. Ich bin weder Musikwissenschaftler noch Germanist mit dem Spezialgebiet Lyrik. Meine Beziehung zur Winterreise ist, wie meine Beziehung zum Gesang und zur Musik überhaupt, vordringlich emotional. Ich erinnere mich gut, wie ich dieser Musik zum ersten Mal begegnete, mein Vater hatte mir eine Box mit Aufnahmen der drei Schubert-Zyklen (wobei nur die Winterreise und die Müllerin Zyklen sind…) von Fischer-Dieskau und Moore zum Geburtstag geschenkt. Ich war 15 und hörte in meiner Freizeit hauptsächlich Pop-Musik, wie sich das für einen Jungen in diesem Alter gehörte. Schließlich war ich durch das Klavierspiel und mein Singen im Chor ständig auch von klassischer Musik umgeben.

Die Ausdruckshaftigkeit dieser Musik nun hatte mich im Kern berührt und getroffen. Natürlich musste ich mir die Noten beschaffen und sie studieren. Und lossingen. Mich körperlich hineinbegeben in diese Musik. Sie klanglich erspüren. Als ich während des Studiums für zwei Liederabende gefragt wurde, war für mich das Programm selbstverständlich. Dieses Werk „kannte“ ich am besten, es war mir vertraut, in ihm fühlte ich mich sicher und zuhause.

Kann man als 19-jähriger die Winterreise singen? Sicher. Singt man sie 20 Jahre später anders? Natürlich. Und wiederum 20 Jahre später anders? Selbstverständlich. Aber man verändert sich mit ihr, und auch die Winterreise selbst schein sich verändert zu haben,  wenn man sie wieder trifft. So, als hätte auch sie eine Wegstrecke zurückgelegt und sich weiter entwickelt. Wie ein guter, treuer Freund. Dadurch wird eine neuerliche Begegnung immer wieder vertraut und neu gleichzeitig sein.

Auf der Bühne zu stehen und die ersten Töne der Winterreise zu hören und zu singen bedeutet beständig das Gefühl, vor einem Berg zu stehen. Man kennt vielleicht inzwischen verschiedene Aufstiegsrouten und hat einige Begehungen hinter sich, aber der Berg wird nicht kleiner. Und so, um in diesem Bild zu bleiben, wie der Bergsteiger sich immer mehr wie in den Tunnel des Aufstiegs hinein konzentriert, so zieht einen die Folge der 24 Lieder wie in einem Sog in einen emotionalen Strudel hinein. Mir scheint es heutzutage unvorstellbar, die Winterreise mit einer Konzert-Pause aufzuführen. Doch vor 40 Jahren war das ebenso üblich, wie die Kürzungen einiger Arien in der Bachschen Matthäuspassion oder im Messias von Händel, die in unserer Zeit fast schon als Sakrileg angesehen werden.

Dieser Sog also, in den man sich nur allzu gerne hineinziehen läßt, führt unweigerlich zum „Leiermann“. Und wenn der Leiermann am Anfang des Zyklus schon fest im Blick ist, dann sind alle Lieder auf dem Weg zu ihm.  Der einzige Mensch, dem er begegnet, der einzige, an den er das Wort richtet, dem er die eine Frage stellt, die gleichzeitig die letzte Zeile ist, und die ohne Antwort bleibt. Sprachlosigkeit ist eine unausweichliche Folge des Alleinseins. Er spricht zu sich, mit seinen Tränen, dem Schnee, dem Fluß, einer Krähe, den Hunden, Totenkränzen, seinem Wanderstab und den unwirklichen Nebensonnen.

Das Wandern, das Rennen, das Gehen, das Schlurfen und Stolpern des Wanderers in dieser Expedition durch alle Facetten der größtmöglichen menschlichen Einsamkeit in einer abweisenden, lebensfeindlichen, unmenschlichen, ja eigentlich un-überlebbaren Umgebung nimmt ihren nicht enden wollenden Lauf. „Jeder Strom wird’s Meer gewinnen, jedes Leiden auch sein Grab“. Hier findet es eben nicht sein Grab, ganz im Gegensatz zur Müllerin, wo wir in Echtzeit die furchtbare Geschichte eines Scheiterns durch Sprachlosigkeit miterleben, (selbst im „Tränenregen“, seiner so lange herbeigesehnten Stunde nur mit ihr, bringt er kein Wort über die Lippen), bis in die letzte Konsequenz des Todes hinein. Hier aber, in der Winterreise, bleibt nicht nur die letzte Frage unbeantwortet. Denn was passiert eigentlich mit dem Wanderer in der Winterreise? Wird auch sein Leidens-Strom das Meer gewinnen? Wird er letztendlich einen Totenacker mit einer freien Kammer finden?

Einsam bin ich eingezogen, einsam zieh ich wieder aus. So wie jeder Mensch alleine die Welt betritt, so allein verläßt er sie auch wieder. Und dazwischen? Hoffentlich Gemeinschaft, Wärme, menschliche Nähe, Liebe, Freundschaft, Mitgefühl, Empathie, Wertschätzung.  All das gibt es in der Winterreise nicht, aber nach all dem hat sich Franz Schubert sein Leben lang, und so oft vergeblich, gesehnt.

In Schumanns Vertonung von Andersen-Texten op. 40 heißt es am Ende des „Spielmanns“: O Gott, bewahr‘ uns gnädiglich. Dass keinen der Wahnsinn übermannt. Bin selber ein armer Musikant…“

© Andreas Schmidt

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