Das tiefste und dunkelste Liedwerk in der Musikgeschichte
„O Herz, wenn Dich die Menschen
Verwunden bis zum Tod,
Dann klage Du dem Walde,
vertrauend, Deine Noth.
Dann wird aus seinem Dunkel,
aus seinem Waldesgrün,
beseligend zum Herzen
des Trostes Engel zieh´n“.
[aus: „Der Rose Pilgerfahrt“ von Moritz Horn]
„Das Wandern“ wurde von vielen romantischen Dichtern besungen; im neunzehnten Jahrhundert war die Natur in zahllosen Gegenden noch weitgehend unberührt und schön zu nennen.
Viele Künstler, denen es im Zusammenleben mit der menschlichen Gesellschaft schlecht ging, ergriffen möglichst oft die Flucht in die unendlich scheinende Landschaft und fanden wenigstens für kurze Zeit Trost und Inspiration; man könnte Schubert und Mayrhofer als Beispiel anführen …
In der Biedermeierzeit hatten die Beschreibungen solcher Wanderungen meistens einen idyllischen Schluss; man findet den z.B. bei Grillparzer, Seidl, Wilhelm Müller und schon früher bei Hölderlin.
Bei dem Dichter Wilhelm Müller entstand aber etwas Neues: ein versöhnender Schluss nach einem Selbstmord in der „Schönen Müllerin“ und nachher, in der „Winterreise“, eine Flucht in völlige Vereinsamung und Erstarrung (in der beschriebenen Aussichtslosigkeit nur noch vergleichbar mit der „Reise durch das Wesertal“ des Dichters Ernst Schulze). Auch die von Schubert komponierte Ballade „Der Liedler“, nach einem Tekst von Kenner, war die Beschreibung einer aussichtslosen Liebesgeschichte, aber da findet der „Liedler“ Ruhe, nachdem er sich für die Geliebte aufopfert und sie durch sein Opfer rettet.
Der Jüngling in der „Winterreise“ flieht nach seiner unglücklichen Liebesgeschichte in den Winter hinein: ein Getriebener, der eine Straße gehen muss, die noch keiner vor ihm ging. Wilhelm Müller machte seine Reise durch den Winter von der Stadt Brüssel aus, wo er als Leutnant im Preußischen Dienst beurlaubt, nach einer unglücklichen Liebesaffaire im November 1814 nach Dessau wanderte.
Professor Erwin Ringel hat in seiner Lesung „Die Winterreise- Eine Wanderschaft in den Tod“, darauf hingewiesen, dass dieser Winterreisende alle Eigenschaften eines potenziellen Selbstmörders hat: die Liebe wurde zu unsagbarem Schmerz, der Jüngling hat alle Hoffnung verloren (das Lied: „Letzte Hoffnung“), nur der Glaube, weiter zu müssen, hindert ihn daran, die Selbstvernichtung in die Hand zu nehmen (das Lied „Das Wirtshaus“), obwohl der Wanderer einsieht, dass seine Reise töricht ist „welch ein törichtes Verlangen treibt mich in die Wüstenein?“).
In dem Lied „Die Nebensonnen“ strahlen ihm die Augen seiner Geliebten entgegen, wie in glücklichen Tagen, aber es ist nur ein Trugbild … deshalb wünscht er sich, die dritte, die echte Sonne, solle auch verschwinden, denn „im Dunkeln wird mir wohler sein“ ...
Der Jüngling verlangt nach der ewigen Nacht, nach der ewigen Ruhe, die ihm der Lindenbaum schon versprach …
In dem Lied „Der Leiermann“ sieht er schließlich sein Ebenbild: ein Ausgestoßener, der außerhalb der Gesellschaft steht und an Krankheit und Armut zugrunde gehen wird …
Doch „Der Leiermann“ ist auch Schuberts Ebenbild, denn im Jahr 1827, im Entstehungsjahr der Winterreise, beklagte Schubert sich bei seinem Freund Eduard von Bauernfeld: „Was soll aus einem armen Musikant wie mir werden? Ich werde noch wie Goethes Harfner an die Türen schleichen und um Brot betteln müssen …“
Vor allem nach seiner Erkrankung war diese pessimistische Sicht sehr bezeichnend für Schuberts Wesen, das wurde lange Zeit nicht erkannt!
Schubert schrieb auch: „Meine Erzeugnisse sind durch den Verstand für Musik und durch meinen Schmerz vorhanden- Gibt es eigentlich lustige Musik? Ich weiß von keiner“.
Schon im Jahre 1824 machte Schubert seinem Freund Leopold Kupelwieser eine „Herzensergießung“: „Ich fühle mich als den unglücklichsten, elendsten Menschen auf der Welt. Denk Dir einen Menschen, dessen Gesundheit nie mehr richtig werden will, und der aus Verzweiflung darüber die Sache immer schlechter statt besser macht, denke Dir einen Menschen, sage ich, dessen glänzendste Hoffnungen zu Nichte geworden sind, dem das Glück der Liebe und Freundschaft nichts bieten als höchstens Schmerz, dem Begeisterung (wenigstens anregende) für das Schöne zu schwinden droht, und frage Dich, ob das nicht ein elender, unglücklicher Mensch ist? –
„Meine Ruh´ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer und nimmermehr“, so kann ich wohl jetzt alle Tage singen, denn jede Nacht, wenn ich schlafen geh, hoff ich nicht mehr zu erwachen, und jeder Morgen kündet mir nur den gestrigen Gram“. Diese Äußerung hat fürwahr eine „Winterreise- Stimmung“!
Mayrhofer schrieb in seinen Erinnerungen:
„Die Wahl der Winterreise beweist, wie Schubert ernster geworden ist. Er war lange und schwer krank gewesen, er hatte niederschlagende Erfahrungen gemacht, dem Leben war die Rosenfarbe abgestreift, für ihn war Winter eingetreten. Die Ironie des Dichters, wurzelnd in Trostlosigkeit, hatte ihm zugesagt: er drückte sie in schneidende Töne aus. Ich wurde schmerzlich ergriffen …“
Es ist bedeutungsvoll, dass Mayrhofer, der intime Freund, die Winterreise und Schuberts aussichtslose Krankheit in Verbindung bringt!
Dasselbe tat Freund Josef von Spaun:
„Schubert wurde durch einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen: Auf meine Frage, was in ihm vorgehe, sagte er nur: „Nun, ihr werdet es bald hören und begreifen“.
Eines Tages sagte er zu mir: „Komme heute zu Schober, ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen. Ich bin begierig zu sehen, was ihr dazu sagt. Sie haben mich mehr angegriffen, als dies je bei anderen Liedern der Fall war“. Er sang uns nun mit bewegter Stimme die Ganze Winterreise durch. Wir waren über die düstere Stimmung dieser Lieder ganz verblüfft. Und Schober sagte, es habe ihm nur ein Lied „Der Lindenbaum“ gefallen. Schubert sagte hierauf: „mir gefallen diese Lieder mehr als alle, und sie werden euch auch noch gefallen“, und er hatte recht, bald waren wir begeistert von dem Eindruck der wehmütigen Lieder, die Vogl meisterhaft vortrug.- Schönere deutsche Lieder gibt es wohl nicht, und sie waren sein eigentlicher Schwanengesang“.
Er war von da an angegriffen, ohne dass jedoch sein Zustand besorgniserregend gewesen wäre (etwas Ähnliches schrieb der gute, naive Spaun auch über Mayrhofers Hypochondrie, die Krankheit, die Mayrhofer dazu brachte, seinem Leben ein Ende zu setzen!).
„Viele glaubten, und glauben vielleicht noch, Schubert sei ein stumpfer Geselle gewesen, den nichts angreift, die ihn aber näher kannten, wissen es, wie tief ihm seine Schöpfungen angriffen, und wie er sie in Schmerzen geboren. Wer ihm nur einmal an einem Vormittag, mit Komponieren beschäftigt gesehen hat: glühend und mit leuchtenden Augen, ja selbst mit anderer Sprache, einer Sonnambule ähnlich, wird den Eindruck nie vergessen. (Wie hätte er auch diese Lieder schreiben können, ohne im Innersten davon ergriffen zu sein!).
Die Winterreise ist das tiefste und dunkelste Liedwerk in der Musikgeschichte: Komponist und Dichter haben etwas ungemein Ergreifendes geschaffen, das auch in unserer Zeit aktuell bleibt, wenn der Sänger sich restlos mit dem Wanderer identifiziert, und dem Publikum nicht nur schöne Töne vorsingt! Denn auch in unserer so „gesegneten“ Zivilisation gibt es unendlich Viele, die hilflos die Flucht in die innere Emigration ergreifen und zugrunde gehen. Mögen engagierte Musiker und ein begeistertes, nicht nur konsumierendes Publikum, in der Winterreise die Kraft finden, arme, aussichtslos isolierte Menschen zu verstehen und nach Vermögen zu helfen. Dann wird dieses geniale Kunstwerk nicht nur unendlich, „unerträglich“ schön sein, sondern, die Winterreise wird eine wichtige Rolle in unserem Leben spielen, die Musik von Schubert verdient es!
© Robert Holl