Midlife Crisis oder Jünglings-Schicksal?
Amir Katz im Gespräch über „Winterreise“ mit Pavol Breslik
Amir Katz: Es ist Nacht. Draußen steht der Vollmond über schneebedeckter Landschaft am Himmel. Ein junger Mann beschließt, seine Verlobte zu verlassen und auf eine lange Reise zu gehen – mitten im kalten Winter. Denn seine zukünftige Braut wurde von ihren Eltern einem reichen Mann estimmt. „Fremd bin ich eingezogen“ ist eines der berühmtesten Zitate aus der deutschen Romantik. Wie empfindest du den Protagonisten, das lyrische Ich? Ist er resigniert oder eher verbittert? Meint er es ironisch, wenn er sagt „…will dich im Traum nicht stören…“?
Pavol Breslik: Ärger, Frust, Zorn und Verbitterung mischen sich von Anfang an mit Gelassenheit, Sich aufgeben wollen und Resignation. Die Tempobezeichnung des ersten Lieds lautet im Autograph: „Mäßig, in gehender Bewegung“! Wie geht ein Mensch im Zorn? Wie geht jemand, der keine Lust und keine Kraft mehr hat, um seine Liebe zu kämpfen? Das alles haben wir in diesen ersten vier Strophen. In diesem Mann kocht Liebe mit Hass zusammen und ich denke nicht, dass er es ironisch meint mit „… will dich im Traum nicht stören, wär schad um deine Ruh.” Wenn man jemanden liebt und selbst wenn derjenige uns keine Liebe zurückgibt, wollen wir nicht, dass ihm etwas zustößt. Wir möchten, dass er glücklich ist, und so ist es auch hier. Deswegen gibt es an dieser Stelle die fast irreale Rückung von Moll nach Dur.
Amir Katz: Viele Musiker und Musik-Liebhaber haben einmal eine „Winterreisen“-Phase, in der sie das Werk entdecken und viel Zeit damit verbringen. Kannst du etwas über den Prozess erzählen, wie Du „Winterreise“ einstudiert hast?
Pavol Breslik: Dieser „Prozess“, wenn wir ihn so nennen, hört nie auf. Wann immer ich eine Seite aufschlage, bei der ich die Noten beiseitegelegt habe und sie wieder anschaue, ergeben sich neue Fragen. Und manchmal bekomme ich nicht auf alles eine Antwort. „Die Zeit, die ist ein sonderbar‘ Ding”, singt die Marschallin im „Rosenkavalier“, und so ist es auch mit dieser Musik. Als ich sie zum ersten Mal tiefer studierte, habe ich mich so tief in sie und die Verse hineinversetzt, dass ich fast in eine Depression abrutschte. Deswegen finde ich wichtig, dass man solche Lieder nicht zu oft singt.
Amir Katz: Beeinflusst Dich die Stimmung dieses Zyklus‘ in deinem Alltag, oder kannst du Dich davon distanzieren?
Pavol Breslik: Wir Künstler sind immer sehr beeinflusst von dem Werk, das wir gerade machen. Wir geben unsere ganze Seele hinein und wollen uns das Herz auf die Hand legen, um es dem Zuhörer zu geben: „Nimm, es ist für Dich gedacht.“ Manchmal vergisst man, dass die Haustür offen geblieben ist und sich ein bisschen von der Stimmung hereinschleichen konnte. Das ist aber normal. Für einen Künstler ist es unmöglich, dass er nicht beständig mit seinen Kunstwerken lebt.
Amir Katz: Es wurde und wird viel diskutiert über den Charakter Schubert´scher Musik. Riccardo Muti etwa meint: „Schubert nimmt den Hörer bei der Hand, wie ein Begleiter, wie ein Freund. Er ist immer sehr freundlich. Das ist das Besondere bei Schubert. Selbst die Sforzati oder das Fortissimo ist bei Schubert niemals brutal, gewalttätig oder verletzend.“ Andere, wie Artur Schnabel, Wilhelm Furtwängler, Alfred Brendel oder auch Dietrich Fischer-Dieskau betonen in ihren Interpretationen die gewaltige, dramatische Dimension seiner Musik.
Pavol Breslik: Jeder Musiker fühlt und schmeckt die Musik anders. Ich finde nicht, dass Schubert brutal oder verletzend ist. Aber in seiner Musik sterben Menschen, und das ist sehr brutal. Er kann die unglaublichsten Töne komponieren und dabei sind die brutalen oder geheimnisvollen meist am schönsten. Betrachten wir den „Erlkönig“, das ist ein Meisterwerk. Da können wir nicht sagen, dass er uns an die Hand nimmt und die Geschichte schlicht erzählt, sondern er schmeißt uns fast unter die trampelnden Füße des Pferdes, aus dessen Nüstern heiße Luft dringt, die sich in einer kalten Nacht schnell zu Dampf verwandelt. Man riecht förmlich die Angst, die der Vater um sein Kind hat. Das ist einerseits unglaublich brutal, aber auch unglaublich schön. Es gibt aber auch Lieder, in denen er mit den leisesten Tönen die Schönheit einer Nacht in Musik fasst.
Amir Katz: Wilhelm Müller und Schubert waren Anfang 30, als sie die Gedichte bzw. die Musik schrieben. Unser Protagonist ist auch jung. Schubert hat „Winterreise“ für einen Tenor komponiert – und er war selbst Tenor –, weil er vielleicht glaubte, dass sie einen jungen Menschen besser porträtieren kann. Der Tenor Peter Pears dagegen meinte in einem Interview über „Winterreise“, dass es sich hier um Midlife Crisis eines reifen Mannes handelt. Viele Menschen denken, man sollte „Winterreise“ erst später im Leben singen und am besten, wenn man Bariton ist. Wie siehst Du das?
Pavol Breslik: Ich hatte von Anfang an großen Respekt vor „Winterreise“, denn sie verlangt ihrem Erzähler alles ab. Zuerst hatte ich Bedenken, ob eine Tenorstimme dafür gut geeignet ist, und diese Zweifel habe ich immer mal wieder. Denn es ist für einen Tenor schwerer, die tiefen Abgründe mit den Farben seiner Stimme zu zeigen. Anderseits können für einen tiefen Bass oder Bariton leise Töne problematischer sein. Auch das Alter spielt eine große Rolle. Nur wer Leid wirklich gespürt hat, kann auch von Leid singen. Da geht es um die Wahrhaftigkeit. Ein unerfahrener Sänger kann vielleicht zwar technisch schön singen, aber der Zuhörer geht mit einem leeren Herzen nach Hause. Und das ist es, was am Ende zählt: Dass Menschen in eine andere Welt entführt werden und für eine Stunde all‘ ihre Probleme vergessen. Dazu braucht es Erfahrung und Können. Ob dann ein Mann oder eine Frau singt, ist egal.
Amir Katz: „Der Leiermann“ heißt das letzte Lied und ist die letzte Station unseres Wanderers. Ist dieser Leiermann der Tod?
Pavol Breslik: Es ist eines meiner Lieblingslieder. Viele sehen den Leiermann als Skelett mit der Leier, das auf den nächsten Toten wartet. Ich sehe in diesem Moment eine Begegnung des Wanderers, die ihn sehr beeinflusst: Er will sein weiteres Leben mit diesem Leiermann führen. Wir können den Leiermann als Tod sehen, aber es gibt auch Menschen, die glauben, dass sich mit dem Tod ein neuer Weg öffnet, eine andere Dimension. Wenn Schubert im letzten Lied den Tod gesehen hat, dann glaubte er an das Leben nach dem Tod. Wir erleben in der „Müllerin“, wie sich der Müllersbursche wegen seiner unglücklichen Liebe ertränkt. Im „Erlkönig“ hört man den letzten Atemzug des Knaben, der in den Armen des Vaters stirbt. Hier ist es völlig anders: Nach „Willst zu meinen Liedern deine Leier dreh’n“ wiederholt sich die Melodie. Alles bleibt offen, der Schubert Franzl lässt unsere Phantasie spielen – und so ist es auch gut!
© Amir Katz & Pavol Breslik